Zeitgemäße Betrachtungen zur Selbstfürsorge


Psychiatrie, Psychotherapie, Psychologie, Psychoanalyse, Selbsterfahrung, Selbsthilfe…. 
Wer soll sich auskennen mit all diesen Begriffen? *

 

  Obwohl sie diese Begriffe inzwischen in den alltäglichen Sprachgebrauch übergegangen sind, versteht jeder etwas anderes darunter. Teilweise hat man sie kaum je gehört, darf also annehmen, dass es sich um etwas ganz Spezielles handelt, das nur wenige Menschen betrifft. Es ist schon seltsam, dass eine Kulturpflanze, die vor 100 Jahren auf der Bühne westlichen gesellschaftlichen Bewusstseins auftauchte und sich als außerordentlich fruchtbar erwies, dort bis heute keine Wurzeln geschlagen hat. Sigmund Freud hat es gewusst und vorausgesagt, dass seine Erforschung des Unbewussten den Menschen für alle Zeiten ein Dorn im Auge bleiben würde. Die wesentliche Herausforderung liegt in Freuds kränkender Behauptung, dass wir uns selbst nicht kennen können. Wer will sich schon gerne so sehen, dass er im eigenen Haus nicht Herr sein sollte? Dort ist doch ein jeder überzeugt, unbedingt selbst am besten Bescheid zu wissen.
  Meine Betrachtungen sollen allerdings nicht dazu dienen, alle diese Begriffe zu definieren und sauber voneinander abzugrenzen. Mein Anliegen ist ein anderes: ich möchte zur Aufklärung in einem Bereich beitragen, der für jedermann von lebenswichtiger praktischer Bedeutung ist, indem seine Lebensqualität entscheidend davon abhängt. Es handelt sich um die Notwendigkeit, sich selbst besser spüren zu lernen, um allgemein bekannten Belastungen des Lebens besser gewachsen zu sein. Dabei geht es um geeignete Übungs-Methoden für derartige optimale Selbstfürsorge und darum, damit zusammenhängende Vorstellungen von hinderlichen Vorurteilen zu befreien. Ich werde an geeigneter Stelle meine Eigenerfahrung erläuternd zu Hilfe nehmen.
  Wenn ich Filme im Fernsehen oder im Kino sehe, stelle ich immer wieder fest, welch exotische Rolle psychische Auffälligkeit darin zu spielen pflegt. Da treten Personen mit eigenartigen Ticks, sonderbaren Verhaltensweisen und absurden Motiven in Erscheinung. Sie wirken entweder bemitleidenswert oder unheimlich und werden als Kranke präsentiert, die Hilfe benötigen. In jedem Fall erscheinen sie zumeist so fremdartig wie Tiere im Zoo. Solche Darstellung verdeckt für die Zuschauer einen entscheidenden Umstand und verhindert somit, dass er sich mit Menschen identifizieren kann, die seelische Probleme haben. Dabei ist allgemein bekannt, was Statistiken seit langem belegen, dass immer mehr Menschen unzufrieden mit sich selbst und ihrem Leben sind. Gleichzeitig wächst die Zahl derjenigen, die über Depressionen und Ängste klagen, Erschöpfungszustände wie das sogenannte Burnout-Syndrom und verschiedene psychosomatische Beschwerden haben. Immer häufiger treten Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen und Krisen in Partnerschaften und Familien auf. All dies spiegelt sich einerseits in ständig wachsender Nachfrage nach Anleitungen zum Glücklichsein und lebensphilosophischen Ratgebern. Offenbar glauben sowohl Autoren als auch Käufer an die Möglichkeit, auf diesem Gebiet durch Vermittlung ständig neuer Theorien zum Ziel zu gelangen. Andererseits streben auch immer mehr Menschen danach, sich in Psychotherapie zu begeben.
  Zusammengefasst lässt sich als allgemein verbreitetes gravierendes Missverständnis erkennen, dass seelische Probleme zunächst tendenziell so lange als möglich vor sich selbst verleugnet werden. Es gehört sich wohl einfach nicht, so etwas zu haben. Anständige Menschen haben Kopf-,Rücken- oder Magenschmerzen, aber keine psychischen Probleme! ** Wenn solche Verleugnung allerdings nicht mehr möglich ist, dann werden derartige Störungen unmittelbar im Bereich des Krankhaften verortet, woraus sich Anspruch auf Mitgefühl und fachliche Hilfe ableitet. Man ist entweder unbeschwert oder krank- hat jedenfalls grundsätzlich keine inneren Probleme. Die Möglichkeit, in diesem Bereich des Psychischen eigenverantwortlich und selbsttätig praktisch tätig zu werden, bevor das Stadium einer Krankheit erreicht ist, bleibt hierbei ausgeschlossen.
  Zwar haben sich im Laufe der Zeit gewisse hygienische Standards durchgesetzt. Man putzt seine Zähne, um sein eigenes Gebiss möglichst lange zu erhalten. Man geht zur Krebsvorsorge, treibt Sport und richtet sich nach modernen ernährungsphysiologischen Einsichten, um sich körperlich gesund zu erhalten. Man kümmert sich zunehmend um die Erhaltung von Umwelt und Natur. Aber dass es nicht nur möglich sondern notwendig ist, auch psychohygienische Vorsorge und Psychoprophylaxe zu betreiben, ist weitgehend unbekannt. Die in der Bevölkerung verbreitete Vorstellung von Selbstverantwortung bezieht bislang den Umgang mit sich selbst in allen wesentlichen Lebensbereichen nicht ein. Hier wird der Mensch weiterhin erst dann aktiv, wenn es für eine konstruktive Selbstbewältigung bereits häufig zu spät ist.
  Für diesen Umstand sollen dieMenschen allerdings hier nicht angeklagt und beschuldigt werden, denn sie beruht vorwiegend auf Unwissenheit. Doch kann für diesen Informationsmangel ein gewisser Personenkreis als verantwortlich betrachtet werden. Von Psychotherapeuten, Psychiatern, Ärzten und Psychologen wie von Lebensberatern jeglicher Richtung sollten Menschen erwarten dürfen, dass sie bewanderter sind in der Wissenschaft vom praktischen Umgang mit sich selbst als die Allgemeinheit. Leider weisen einschlägige Statistiken in diesem Punkt auf einen schwerwiegenden Missstand hin: alle diese Nothelfer sind solche, die sich statistisch nachweislich selbst am wenigsten helfen können. In keinen anderen Berufen treten zahlenmäßig so häufig Depressionen, Süchte, Selbstmorde und Scheidungen auf wie bei Psychohelfern. Woran liegt dies? Muss das so sein und bleiben?
  Ich behaupte, dass dieses Übel weitgehend an der fachlichen Ausbildung von Psycho-Fachleuten liegt. Nicht dass diese selbst mangelhaft wäre, im Gegenteil gelten gerade deutsche Qualitäts-Standards diesbezüglich international als vorbildlich. Aber das Schwergewicht dieser mehrjährigen Trainingsprogramme liegt auf dem Umgang mit dem Anderen, dem sogenannt Kranken, eben gerade nicht mit sich selbst. Zwar zählen zu solcher Weiterbildung in gewissem Umfang auch der Besuch sogenannter Selbsterfahrungsgruppen. Ob diese Seminare jedoch beinhalten können, was die Bezeichnung besagt, lässt sich aus mehreren Gründen bezweifeln. Denn abgesehen davon, dass Selbsterfahrung hier ohnehin außerhalb des primären Fokus als sekundär betrachtet wird, liegt es im Wesen derselben, dass sie absolut freiwillig d.h. aus eigener Motivation gewollt sein muss, um wirksam werden zu können. Als Bestandteil einer Weiterbildung ist sie jedoch obligat, und kommt so als Pflichtteil zu einer i.d.R. schon umfangreichen sonstigen Pflichtlast des Kandidaten hinzu.
  Man muss sich dann noch praktisch vorstellen, wie es sich anfühlt, sich in einem Kreis von Kollegen seelisch entblößen zu sollen, in dem jeder sich, so gut er kann, vor den anderen zu verstecken sucht. In dieser Atmosphäre kann es zu wesentlichen Erkenntnissen über sich selbst und einer vertieften Selbstwahrnehmung kaum kommen. Solche Stunden dürften die meisten Kandidaten wohl nur einfach irgendwie zu überstehen suchen, ohne sich allzu sehr zu blamieren. Vielleicht fühlt es sich auch ganz nett und gemütlich in der Gruppe an, und man kommt überein, dass keiner dem anderen zu nahe tritt, dass also möglichst nichts geschieht. Dann war es zwar keine Belastung, aber auch keine Veranstaltung, die ihren Namen verdiente.
  Last but not least dürfen wir nicht vergessen, dass der Beruf des psychotherapeutischen Helfers zwar höchst befriedigend und attraktiv ist, jedoch nicht unbeträchtliche psychische Gefährdungen in sich birgt, die ein geeignetes, aus eigener Motivation erfolgendes wiederholtes Training im optimalen Umgang mit sich selbst ganz besonders notwendig erscheinen lassen. Nicht umsonst hat C.G. Jung psychische Krankheiten als Infektionskrankheiten bezeichnet.
Damit beende ich das erste Kapitel meiner Betrachtungen. Fortsetzung folgt demnächst und wird nähere Auskunft darüber geben, 1. wie man sich praktische Selbsterfahrung vorstellen kann, warum diese 2. psychohygienisch gesehen unerlässlich ist, und weshalb wir 3. ein Training benötigen, um entwicklungsfähig zu bleiben.
* Zum Zweck besserer Lesbarkeit wurde auf eine gendersensible Formulierungsweise bewusst verzichtet.
** Scheinbar im Widerspruch hierzu steht, dass in künstlernahen Kreisen umgekehrt psychische Probleme gerne offen dargestellt und ausgelebt werden. Doch werden sie auch hier nicht als Entwicklungsanreize ernst genommen, indem sie zu einem Teil des Image geworden sind.

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