Zeitgemäße Betrachtungen zur Selbstfürsorge

Was heißt Selbsterfahrung? 

Warum ist sie unverzichtbar, um lebenslänglich entwicklungsfähig zu bleiben?

 

Sokrates

Sokrates

Einige Worte zur Begriffsklärung *

Die Bezeichnung Selbsterfahrung wird inflationär in einer Weise benutzt, die sie im Grunde eines Sinns beraubt. Das Ergebnis ist allgemeine Verwirrung . Der Klarheit wegen wird vorgeschlagen, zwischen Therapie, Lehranalyse bzw. Weiterbildung in Gruppen, Selbsthilfe und Selbst-erfahrung zu unterscheiden.
Therapie setzt voraus, dass eine krankheitswertige Störung diagnostiziert wurde. Lehranalyse beinhaltet Einzelgespräche in einer jeweiligen Therapiemethode zu Lehrzwecken. Weiterbildung in Gruppen betrifft die Vermittlung von theoretischen und praktischen Kenntnissen in einer Therapiemethode in Gruppen. Selbsthilfe wird von Betroffenen einer bestimmten Problematik zwecks gegenseitiger Beratung privat veranstaltet und bedarf keiner Leitung.
Selbsterfahrung hat insofern einen Zusammenhang mit „Krankheit“, als sie nicht mehr angebracht ist, wenn Menschen so ausgeprägte Beschwerden haben, so dass sie einer Therapie bedürfen. Dennoch setzt sie ein inneres Anliegen voraus. Sie findet i.d.R. nicht im Einzel-Setting statt, sondern prinzipiell in Gruppen, wozu professionelle Leitung benötigt wird. Damit Selbsterfahrung wirksam werden kann, ist uneingeschränkt freiwillige Motivation erforderlich. Sie sollte keinem anderen Zweck dienen, als einer Vermehrung von Erfahrungswissen über die eigene Person. Als obligater Baustein diverser therapeutischer Weiterbildungs-gänge fehlt solcher „Selbsterfahrung“ derartige Freiwilligkeit, weswegen bei solchen Seminaren häufig „nicht drin ist, was drauf steht“.

 Zur Motivation

Bis dahin wurde versucht zu klären, was Selbsterfahrung nicht ist. Es bleibt die Frage, was sie tatsächlich beinhaltet. Dabei erweist sich die Motivation als entscheidender Faktor. Die erwähnte Freiwilligkeit liegt dann vor, wenn ein Mensch – ohne sich bereits als krank i.S. von behandlungsbedürftig zu empfinden – erkannt hat, dass sein Erleben und Verhalten irrationalen Vorgängen unterliegt, die er nicht alleine zu entwirren vermag. Solche Erkenntnis entspricht dem Gefühl einer Unzufriedenheit mit sich selbst und einer potentiellen Gefährdung, sofern nichts geschieht, das die eigene psychische Entwicklung fördert. Auch die Selbstwahrnehmung einer gewissen Entscheidungsschwäche, Orientierungslosigkeit, Unflexibilität oder eines Festgefahrenseins bietet passende, gute Gründe, etwas für die eigene Weiterentwicklung zu unternehmen. Auf körperlicher Ebene würde man von Vorsorge oder Prophylaxe sprechen (z.B. Krebsvorsorge, Zahnreinigung, Sport, Diät). Derartige Vorsorge ist in psychischer Hinsicht bisher wenig bekannt und gebräuchlich. Deswegen lässt sich Selbsterfahrung so schwer definieren. 

 

Einige Beispiele zur Verdeutlichung

 Welche Umstände Menschen dazu veranlassen können, Selbsterfahrung aus eigener Motivation zu unternehmen, mögen folgende Situationen illustrieren:
Eine Frau erkennt nach mehreren gescheiterten Beziehungen, dass sie bisher immer denselben, obwohl unpassenden Partnertyp gewählt hat. Dieser hat eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrem Vater, zu dem sie allerdings nie eine gute Beziehung hatte.
Ein Mann realisiert, dass er unzufrieden mit seinem Beruf ist, in dem er sich ausgenutzt und wenig anerkannt fühlt. Er neigt außerdem auch in seiner Freizeit dazu, sich zu verzetteln, weil er sich schlecht abgrenzen und nein sagen kann. Er ärgert sich darüber, dass es ihm nicht gelingt, diese Situation zu ändern . Obwohl er ständig aktiv ist, langweilt ihn sein Leben irgendwie. 
Eine Frau stellt fest, dass sie mit ihrem Aussehen nie zufrieden ist. Es hilft ihr dabei keineswegs, sie sich ständig neue Kleidung zu kaufen, die sie gar nicht braucht. Im Gegenteil entstehen ihr wirtschaftliche Probleme hierdurch.
Ein Lehrer behandelt seine Schüler genau so streng, wie er es von seinem Vater erfahren hat, obwohl er seit jeher ein liberaler Pädagoge sein möchte. Er ist zunehmend unzufrieden mit sich, weil er sich für einen schlechten Lehrer hält.

 

Ein aufschlussreicher Film von Irvin D. Yalom

Irvin D. Yalom

Irvin D. Yalom

Kürzlich lief ein sehr interessanter Film in den Kinos über den bekannten amerikanischen Psychoanalytiker Irvin D. Yalom ( Autor des Buches „Und Nietzsche weinte“) mit dem Titel „Anleitung zum Glücklichsein“. Er zeigt sein eigenes Leben einschließlich der Vorgeschichte und heutigen Lebensweise. Man sieht einen für seine 85 Jahre körperlich und geistig höchst agilen, kreativen und erfolgreichen Mann, der zwar aus belasteten Familienverhältnissen stammt, aber seit Jahrzehnten in einer glücklichen Ehe und Familie lebt, auch wenn beide keineswegs konfliktfrei sind. Yalom macht darin einige bedeutsame Aussagen zur Selbsterfahrung. Diese sind trotz ihrer Wichtigkeit erstaunlich selten zu hören. U.a. äußert er, dass Selbsterfahrung speziell für professionelle Psychotherapeuten eine lebenslänglich notwendige Selbstverständlichkeit darstellt. Er bemerkt dazu ferner, dass Selbsterfahrung immer auch unangenehme Empfind-ungen auszulösen pflegt, weil es jeden Menschen zu beschämen und zu ärgern scheint , wenn er feststellen muss, dass er sozusagen nicht „Herr im eigenen Haus“ ist. Dies geschieht aber unvermeidlich, sobald er damit konfrontiert wird, dass es Bereiche in seiner Persönlichkeit gibt, die ihm bisher nicht bewusst waren.

 

Versuch einer inhaltlichen Beschreibung

Solche unerwünscht empfundene Konfrontation geschieht unvermeidlich in freiwillig unternommener Selbsterfahrung in einer Gruppe, die
1. geschlechtlich, beruflich und altersmäßig heterogen zusammengesetzt ist
2. deren Zusammenstellung aus untereinander nicht bekannten Personen nicht selbst gewählt ist
3. über einen längeren Zeitraum hinweg existiert.
Die Entfaltung der Gruppendynamik folgt bestimmten Gesetzen, weshalb zum Schutz des einzelnen Individuums eine Kanalisierung aggressiver Energien durch kompetente Gruppenleitung unabdingbar ist. Eine Atmosphäre prinzipiellen Wohlwollens muss gewährleistet sein, die von Ehrlichkeit und der Bereitschaft getragen ist, sich untereinander in der weiteren Entwicklung zu unterstützen, sowie jedem Anwesenden ausreichenden Raum zu gewähren. Zur Aufgabe der Leitung gehört ferner, dafür Sorge zu tragen, dass Teilnehmer nicht“Arbeitsbeziehungen“ durch Eingehen von Freundschaften in Privatbeziehungen verwandeln. Letztere könnten nicht mehr über die nötige Distanz verfügen, und würden den Gruppenzusammenhalt  gefährden. 
In einer derartigen Gruppe wird jeder Teilnehmer von seinem aktuellen Leben erzählen, was er mitteilen mag. Dazu wird er von den anderen Feedbacks erhalten, die zwar durch deren eigene Umstände gefärbt, aber objektiv, unvoreingenommen und uneigennützig sind.
Feedback beinhaltet ehrliche Selbstaussagen – aber keinerlei Ratschläge.
Der Teilnehmer muss solche positiven oder negativen Kommentare zu seiner Person, seinem Erleben und Verhalten nicht akzeptieren. Doch er sollte sich damit ehrlich und selbstkritisch auseinandersetzen. Wie er dies tut und mit welchem Ergebnis, das bleibt seine Sache, für die er niemandem Rechenschaft schuldet. Dies bedeutet, dass jeder Teilnehmer für sich selbst verantwortlich ist und bleibt. Unter diesen Voraussetzungen wird sich ereignen, dass die erhaltenen Feedback-Kommentare den Teilnehmer gewisse Zusammenhänge zwischen seinen biografischen Umständen und seinem aktuellen Erleben deutlich machen. Solche Erkenntnisse sind Erweiterungen der Selbsterkenntnis und können nach einiger Zeit zu einer automatischen Selbstkorrektur aufgrund damit verbundener Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Gegenwart führen. M.a.W. sind Kränkungen, Ängste und Schmerzen, die als Kind erfahren wurden, dann erst wirklich vergangen, wenn realisiert wurde, dass sie das Kind betroffen haben, das heute ein Erwachsener ist. Auf diese Weise gewonnene Selbsterkenntnisse intensivieren allgemein die weitere Selbstwahrnehmung und fördern dadurch die psychische und soziale Selbstentwicklung eines Menschen. Nicht umsonst lautete das Motto des großen abendländischen Philosophen Sokrates: Erkenne dich selbst!

Selbstblockaden als „normales“ Entwicklungshindernis

Um zu begreifen, warum eine lebendige Selbstwahrnehmung so wichtig für die psychische Entwicklungsfähigkeit ist, muss man zunächst verstehen, warum eine solche bei den meisten Menschen in unserem Kulturkreis tatsächlich nicht gegeben ist. Diese Einschränkung ergibt sich aus der Art des allgemein erwarteten Umgangs mit unangenehmen, schmerzlichen, ängstigenden oder kränkenden Erfahrungen, die von einem geltenden gesellschaftlichen Ideal verlangt wird. Jeder Mensch erlebt besonders in seiner Kindheit und Jugend derartige Situationen. Der Mechanismus der Verarbeitung, der in unserem Umfeld üblich ist, führt dazu, dass wir uns durch Selbstblockaden vor Wiederholungen möglichst zu schützen suchen. Durch diese gewinnen wir zwar an Stabilität, büßen aber an Lebendigkeit unserer Empfindungsfähigkeit, an Flexibilität in unse-rem Verhalten und an Entwicklungsfähigkeit erheblich ein. Wir frieren unsere Persönlichkeit sozusagen in der Vergangenheit ein und identifizieren uns mit diesem Resultat, das wir als unsere Identität wahrnehmen, als „normal“ verstehen und gegen alle neuen Erfahrungen verteidigen. 
Wir alle funktionieren so. Dies bedeutet aber, dass genau das, was wir glauben, selbst zu sein und für „normal“ zu halten gewohnt sind, keinen dauerhaft wünschens- und erstrebenswerten Zustand darstellt. Es handelt sich im Grunde um eine Art selbstgebauten Käfigs, der die Weiterentwicklung einschränkt. Zwar wissen wir theoretisch, dass der Mensch prinzipiell dazu fähig ist, lebenslänglich zu lernen, und seine Persönlichkeit weiter zu entfalten. Aber wenn wir ehrlich sind, werden wir feststellen, dass uns nur selten Exemplare begegnen, für die uns dies zuzutreffen scheint. Dabei handelt es sich zumeist um außergewöhnliche Persönlichkeiten, die wir gerne bestaunen und bewundern. Aber glauben wir wirklich an die Möglichkeit, dass auch wir selbst, dass alle Menschen entwicklungsfähig und lebenslänglich kreativ sein können? Im Gegenteil pflegen wir solche Ergebnisse besonderer Veranlagung, Schicksal, Talent oder Glück zuzuschreiben. Vielleicht können Menschen ihre Veranlagung und Schicksal aber nur optimal gestalten, wenn es ihnen gelingt, entwicklungsfähig zu bleiben. Dass äußere Bedingungen hierbei großen Einfluss ausüben, ist nicht zu bezweifeln. Die Rede ist von Selbstfürsorge als dem einzigen Faktor, der im Bereich der eigenen Verantwortung liegt und auch äußere Umstände zu wandeln imstande ist.  

Wichtige Voraussetzungen

Was Selbsterfahrung selbstwirksam macht, mag sich schockierend anhören. Es geht dabei nämlich darum, eine bestimmte Leidensfähigkeit zuzulassen, in gewissem Sinne auch zu kultivieren, anstatt der erwähnten Selbstblockaden, die möglichst jedwedes Leiden vermeiden sollen. Sinn dessen ist nicht Leiden als Selbstzweck, sondern die Bereitschaft, vorübergehend auch unangenehme Empfindungen zu ertragen, um sich mit diesen auseinandersetzen und sich von alten Behinderungen letztlich befreien zu können. Als Resultate solch gesteigerter emotionaler Elastizität zeigen sich intensivierte Erlebnisfähigkeit, vermehrtes Sinn-gefühl, gesteigerte Zufriedenheit,  sowie eine Stärkung von Antrieb und Selbstbewusstsein.
Wirksame Selbsterfahrung setzt abgesehen von Ehrlichkeit sich selbst gegenüber eine gewisse Offenheit, sich anderen zu zeigen, Neugier, Selbstverantwortung und ein ausreichendes Maß an Liebe zum Leben und zu sich selbst voraus. Dabei darf nicht unerwähnt bleiben, dass gleichzeitig gegebene gravierende äußere Lebenseinschränkungen wie z.B. schwerwiegende wirtschaftliche oder andere existentielle Sorgen keinen Raum für Selbsterfahrung lassen. Die Lösung solcher äußeren Probleme ist vorrangig und kann daher  in einer Selbsterfahrungsgruppe keinen sinnvollen Platz finden. 

 

Vorbeugende Wirkung 

Derartige Selbsterfahrung wiederholt zu unternehmen, stellt eine optimale Vorbeugung gegenüber dem sogenannten Burnout-Syndrom dar. Denn durch selbstwirksame eigene Entwicklungsförderung werden ohne Einflussnahme von außen gleichzeitig umfassende Kompetenzen in der Bewältigung innerer Krisen trainiert. 
Damit schließt dieses Kapitel. Eine Fortsetzung wird sich neben näherer Erläuterung von Psychoprophylaxe mit alternativen Wegen der Selbsterfahrung beschäftigen.
* Zum Zweck besserer Lesbarkeit wurde auf gendersensible Formulierungen bewusst verzichtet.

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